Das Wort Synkretismus klingt für viele nach Vermischung, nach „weder Fisch noch Fleisch“, nach etwas, das angeblich nicht „rein“ sei. In kirchlichen oder dogmatischen Kontexten wurde der Begriff oft als Warnung gebraucht: als Schreckgespenst einer Religion, die ihre Wahrheit verliert, weil sie sich mit anderen mischt. Doch wer religionswissenschaftlich hinschaut, merkt schnell: Ohne Synkretismus gäbe es überhaupt keine Religion.
Der Begriff – von der Abwehr zur Einsicht
Ursprünglich stammt „Synkretismus“ aus dem Altgriechischen (synkretismos). Plutarch benutzte das Wort nicht religiös, sondern politisch: Die zerstrittenen Kreter, schrieb er, würden sich „zusammentun gegen den äußeren Feind“ – also syn-kretisieren. Erst viel später, in der Neuzeit, wurde der Begriff auf Religion übertragen – meist negativ, um „Vermischungen“ oder „Verfälschungen“ zu bezeichnen.
Die Religionswissenschaft hat diesen Wertmaßstab längst hinter sich gelassen. Sie sieht Religionen nicht als geschlossene Systeme, sondern als lebendige Netzwerke von Bedeutungen, die sich ständig wandeln, austauschen und anpassen. Synkretismus ist in diesem Sinn kein Irrtum, sondern der Motor religiöser Entwicklung.
Jede Religion entsteht aus Begegnungen: Menschen wandern, handeln, heiraten, streiten – und sie bringen ihre Götter, Rituale und Weltbilder mit. So wie Sprache sich verändert, sobald sie gesprochen wird, verändert sich auch Religion, sobald sie gelebt wird.
Synkretismus als Normalzustand des Religiösen
Religionsgeschichtlich lässt sich Synkretismus überall beobachten:
- Das Christentum entstand aus jüdischen, griechischen und römischen Elementen.
- Der Buddhismus nahm in Tibet schamanische Vorstellungen auf und in China daoistische.
- Der Islam absorbierte lokale Bräuche in Persien, Afrika und Südostasien.
- Der Hinduismus wurde geradezu zu einem System der Integration.
Wer also Synkretismus als Ausnahme betrachtet, übersieht, dass Religionsgeschichte ohne Synkretismus nicht existiert. Selbst die Idee einer „reinen Religion“ ist ein Konstrukt – oft ein machtpolitisches, um Grenzen zu ziehen und Deutungshoheit zu sichern.
Moderne Paganismen und die Wiederentdeckung des Synkretischen
In der modernen paganen Bewegung, also bei zeitgenössischen polytheistischen, naturreligiösen und rekonstruktiven Strömungen, wird Synkretismus meist nicht als Gefahr, sondern als schöpferische Realität verstanden.
Viele moderne Heiden wissen: Schon die antiken Religionen, auf die sie sich beziehen, waren zutiefst synkretistisch. Die Griechen übernahmen ägyptische, phönizische und thrakische Götter. Die Römer sahen in fremden Gottheiten oft einfach neue Namen alter Mächte. Selbst die nordischen Mythen entstanden aus über Jahrhunderte verwobenen mündlichen Traditionen, die sich gegenseitig beeinflussten.
Das moderne Heidentum führt diese Dynamik fort. Es nimmt alte Symbole, verbindet sie mit neuen ökologischen, feministischen oder psychologischen Sichtweisen, übersetzt sie in heutige Rituale. Manche Gruppen nennen das living tradition – eine lebendige, sich wandelnde Spiritualität.
Wo Kirchen oder streng monotheistische Systeme Reinheit und Abgrenzung fordern, setzen moderne Paganismen auf Durchlässigkeit und Resonanz. Sie erkennen an, dass Spiritualität nie statisch ist, sondern wächst, sobald Menschen miteinander in Beziehung treten.
Synkretismus als spirituelle Haltung
In paganer Praxis bedeutet Synkretismus nicht beliebiges Mischen, sondern Anerkennung von Vielfalt als göttlichem Prinzip.
Viele sehen darin sogar eine ethische Haltung:
Wer den eigenen Glauben als Teil eines größeren Gewebes versteht, begegnet anderen Religionen nicht mit Angst, sondern mit Neugier.
Synkretismus wird zum Ausdruck von Verbundenheit, nicht von Beliebigkeit.
So schreiben heutige heidnische Theologinnen und Autorinnen – etwa Sabina Magliocco, Graham Harvey oder Margot Adler – immer wieder, dass Paganismus gerade darin modern sei, dass er das Fragmentarische, das Übersetzte und das Vermischte nicht verdrängt, sondern feiert.
Statt von „Verunreinigung“ zu sprechen, reden sie von Erinnerungsschichten, Knotenpunkten und kulturellen Rückkopplungen.
Synkretismus ist hier nicht das Gegenteil von Authentizität, sondern ihre Bedingung: Authentisch ist, was lebendig ist – nicht, was museal erstarrt.
Der Wandel des Begriffs
In den letzten Jahrzehnten haben Religionswissenschaft und Anthropologie den Begriff entgiftet.
Man spricht lieber von:
- Hybridität (nach Homi Bhabha) – also von Zwischenräumen, in denen Neues entsteht.
- Kultureller Übersetzung – wo religiöse Inhalte in neue Kontexte übertragen werden.
- Kreolisierung – besonders in der Diaspora- und Karibikforschung für Religionen wie Santería oder Vodou.
Diese Begriffe sehen Religion als fließenden Prozess. Sie betonen, dass spirituelle Identität nicht in der Reinheit liegt, sondern im Umgang mit Wandel.
Das Heilige in Bewegung
Synkretismus ist kein Makel, sondern ein Zeichen, dass Religion lebt.
Er zeigt, dass Menschen immer wieder Wege finden, das Heilige in neue Sprachen zu übersetzen.
Für moderne Paganismen ist das keine Bedrohung, sondern ein Prinzip: Das Göttliche spricht durch viele Stimmen – und jede Begegnung fügt eine neue hinzu.
In einer Zeit, in der religiöse Reinheit oft wieder zum Schlachtruf wird, erinnert der Synkretismus daran, dass Vermischung kein Verrat, sondern Erinnerung an unsere gemeinsame Herkunft ist.
Alles Religiöse ist ein Gespräch – und Synkretismus ist die Sprache, in der dieses Gespräch geführt wird.

